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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Der Verdriessliche Bahnhofsvorsteher

Auszug aus:

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John Irving: My Movie Business.
Über die Verfilmung meines Romans Gottes Werk und Teufels Beitrag.
Diogenes Verlag, Zürich, 2000, ISBN 3-257-06238-9, DM 29,90, 192 Seiten, 12,5x19 cm, zahlreiche s/w-Fotos aus dem Film.


Buch Er taucht in nur zwei Szenen des Films auf, und er sagt kein Wort; apostrophiert wird er lediglich als "der verdrießliche Bahnhofsvorsteher", aber im Film ist er eine völlig aus dem Gleichgewicht geratene, kummervolle Gestalt. Er spielt eine Nebenrolle, einen unsagbar dummen Menschen. Das fünfte Kapitel von "Gottes Werk und Teufels Beitrag" beginnt mit seiner Beschreibung:

"Der Bahnhofsvorsteher von St.Cloud's war ein einsamer, unsympathischer Mann - ein Opfer von Postversandkatalogen und einer ausgesprochen spleenigen Sekte, die ihre Religion per Postversand verbreitete. Ihre Zeitschrift, die ungefähr das Format von Comicheften hatte, wurde monatlich zugestellt. Auf der Titelseite der Ausgabe vom letzten Monat zum Beispiel war ein wie ein Soldat gekleidetes Skelett abgebildet; es flog auf einem geflügelten Zebra über ein Schlachtfeld, das irgendwie an die Schützengräben im Ersten Weltkrieg erinnerte. Die anderen Postversandkataloge waren von der eher üblichen Sorte, doch der Bahnhofsvorsteher litt derart unter seinen abergläubischen Vorstellungen, dass sich in seinen Träumen die Bilder aus den Sektenblättchen häufig mit den Haushaltsgeräten, Stillbüstenhaltern, Klappstühlen und Riesenzucchini vermischten, die er in den Katalogen angepriesen sah.

Daher war es für ihn nichts Ungewöhnliches, von nächtlichen Horrorvisionen aus dem Schlaf gerissen zu werden, in denen Särge aus einem Bilderbuchgarten emporschwebten - Leichen, die sich, umgeben von preisgekröntem Gemüse, in die Lüfte erhoben. Ein Katalog war ausschließlich diversem Angelzubehör gewidmet; so zeigten sich die Leichen des Bahnhofsvorstehers denn auch häufig in Gummistiefeln oder mit Angelruten und Käschern in der Hand. Und dann gab es noch die Wäschekataloge, in denen Büstenhalter und Strapsgürtel feilgeboten wurden. Vor allem die fliegenden Toten in Büstenhaltern und Strapsgürteln jagten dem Bahnhofsvorsteher Angst ein."

Im Roman verkörpert dieser Bahnhofsvorsteher ein schier hoffnungsloses Ausmaß an Überängstlichkeit; er fürchtet sich wahrhaftig zu Tode. "Für den Bahnhofsvorsteher war die Vorstellung vom Jüngsten Gericht etwas so Konkretes wie das Wetter." Daher ließ er sich auch einreden, "das Jüngste Gericht stehe bald bevor (stets noch eher, als beim letzten Mal erwartet, und stets mit noch entsetzlicherer Wucht). Der Bahnhofsvorsteher lebte dafür, sich in Angst und Schrecken versetzen zu lassen."

...

Im Film bekommen wir die Angst des Bahnhofsvorstehers allerdings nicht zu sehen, sondern nur seine anhaltende Verdrießlichkeit. In einer seiner beiden Szenen ist er zur Stelle, als Homer nach St.Cloud's zurückkehrt. Es ist ein Wintertag; auf dem Bahnsteig liegt knöcheltief Schnee. Vielleicht erkennt der Bahnhofsvorsteher den gutgekleideten jungen Mann, der aus dem Zug steigt, vielleicht auch nicht. Vielleicht weiß er, dass es sich um eine Waise handelt, die St.Cloud's als Junge verlassen hat und nun als junger Arzt zurückkehrt - um den Platz von Dr.Larch einzunehmen, der gestorben ist -, vielleicht weiß er es auch nicht. Wir wissen nur, dass er Homer verdrießlich und missbilligend betrachtet, sobald er seiner ansichtig wird.

Der erste Freitag im Oktober begann sonnig, dann bewölkte sich der Himmel - ein frischer Herbsttag in Bellows Falls, Vermont, dem Drehort für die Bahnstation von St.Cloud's. Die einsame Spur des Bahngleises deutete auf die für das Waisenhaus notwendige abgeschiedene Lage hin. Tatsächlich wies die Bahnstation Bellows Falls samt den dazugehörigen Gebäuden alle üblichen Zeichen der Vernachlässigung auf; man brauchte lediglich ein paar Automobile aus der Zeit und natürlich eine Dampflok und alte Personenwaggons, damit es hier aussah wie in den 40er Jahren in St.Cloud's im Staat Maine.

Als ich an diesem Morgen ziemlich früh zum Set kam, war man schon seit Stunden dabei, künstlichen Schnee zu erzeugen; die Baumstämme auf den Plattformwagen waren ganz davon überzogen. Die Dampflokomotive wurde angeheizt. Ein Stück oberhalb desheruntergekommenen Bahnhofs wurde Frühstück an die Komparsen ausgeteilt. Die meisten von ihnen sollten Zugfahrgäste darstellen - Frauen mit Kindern, Männer, die zu alt waren, um eingezogen zu werden, Soldaten.

Als erstes an diesem Morgen sollte die Szene gedreht werden, in der Homer Wells nach St.Cloud's zurückkehrt, jeder Zoll ein Arzt. Als er aus dem Zug steigt, ist nur der verdrießliche Bahnhofsvorsteher zugegen, um ihn mürrisch willkommen zu heißen. Es ist Anfang November 1944, kurz nach Halloween, aber in St.Cloud's liegt bereits Schnee. Im Roman wird Homer Wells bei seiner Rückkehr nach St.Cloud's von einem neuen Bahnhofsvorsteher begrüßt. Er ist der 'schwachsinnige Bruder' des früheren Bahnhofsvorstehers, der sich einen Augenblick lang einbildet, Homer wiederzuerkennen; doch dann lässt er sich von der Arzttasche irreführen. Im Film bleibt der ursprüngliche Bahnhofsvorsteher am Leben.

Lasse drehte die Szene rund ein halbes Dutzend Mal, während der künstlich erzeugte Schnee allmählich dahinschmolz, sich auf dem Bahnsteig in Matsch verwandelte und die dicken Dampfschwaden aus der Lok sich um die Füße von Homer und dem Bahnhofsvorsteher legten.

Ich war der Bahnhofsvorsteher. Ich hatte mir die Rolle gewünscht. Fast zwanzig Jahre lang hatte ich mir vorgestellt, wie Homer aus diesem Zug steigt und 'nach Hause' zurückkehrt. Ich sagte Richard, ich wolle diese Szene aus der Perspektive des Bahnhofsvorstehers miterleben, der so viele schwangere Frauen nach St.Cloud's hatte kommen und ohne ihre Babys hatte abfahren sehen. Richard und Lasse, die es gewohnt waren, dass ich ständig an allem herummäkelte, trauten mir zu, dass ich so verdrießlich sein konnte, wie die Rolle es erforderte...




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