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Dancer in the Dark
Lars von Trier erzählt
Über Musicals, Oper und Operette
"Es klang so einfach: ein Musical machen. Eine Idee, die
ich schon immer hatte. Aber wer weiß wirklich, wie man
ein Musical macht? Ich versuchte oft, mich zurückzubesinnen
auf meine Kindheit, als ich Musicals im Fernsehen sah und völlig
davon fasziniert war, besonders von denen mit Gene Kelly. Sie
waren immer bezaubernd, und ich dachte mir, vielleicht kann ich
etwas davon wiederbringen. Heute sehe ich kaum noch Musicals,
aber damals habe ich sie mir x-mal angeschaut. Für meine
Eltern waren natürlich alle Musicals nichts als amerikanischer
Dreck, schließlich waren sie Kommunisten.
Ich denke, dass Musicals zur Familie der Melodramen gehören,
obwohl die, die ich sah, nie wirklich gefährlich dramatisch
waren. Man musste dabei nie weinen. Musicals sind wie Operetten,
sie zeichnen sich durch ihre Leichtigkeit aus. Als Genre verlangen
sie einem nicht viel ab, eigentlich gar nichts. Meine ersten
Musicals waren alle sehr leicht. Dann kam dieses eine, das war
phantastisch: West Side Story, das war schon
eher eine dramatische Geschichte.
Der Unterschied zwischen Oper und Operette besteht darin, dass
die schweren Themen alle der Oper vorbehalten sind. West
Side Sory wäre in dem Zusammenhang eher eine Oper,
während, sagen wir, in Singing in the Rain
das einzige Drama darin besteht, dass Debbie Reynolds beinahe
ihre Karriere ruiniert. Oder macht sie Karriere? Egal. Jedenfalls
sind es gewöhnlich kleine Dinge, die in einem Musical passieren.
Was ich mit Dancer in the Dark erreichen wollte, war,
dass man die Dinge genauso ernst nimmt wie in einer Oper. Noch
vor ein paar Jahren haben die Leute in der Oper noch wirklich
geweint. Ich glaube, es braucht eine Menge Talent, um in einem
Medium, das derart stilisiert ist, solche starken Gefühle
zu wecken. Ich würde gerne so viel für jemanden empfinden,
der gerade mit einem Pappschwert erstochen wurde..."
Über den Stil und die 100 Kameras
"Auf die kleinen Tricks, die ich bei den Musical-Nummern
in Dancer in the Dark benutzt habe, bin ich nicht besonders
stolz. Mir gefällt zwar die Idee, dass Selma ihre Phantasien
hat, bzw. aus den Alltagsgeräuschen die Musik heraushört,
aber ich schäme mich fast ein bisschen dafür, dass
wir nicht deutlicher geworden sind und sie einfach so lossingen
ließen, ganz ohne Grund.
Das Problem ist eben, dass man, wenn plötzlich die Musik
losgeht und der Himmel voller Geigen hängt, genauso reagiert
wie in der Muppets Show, wo dann alle nach oben schauen,
um zu sehen, wo genau denn jetzt die Geigen sind. Aber ich wollte
die Emotion und ich wollte diese Emotion auch vermitteln, deshalb
haben wir unseren kleinen Trick angewandt.
Der Film setzt sich aus zwei verschiedenen Bestandteilen zusammen:
den Musikszenen und einigen beinahe dokumentarischen Szenen.
Ich fand es interessant, den Dokumentarstil gegen das Musical
zu stellen, aber ich glaube, das geschah eher aus Bewunderung
für das Musical - ich wollte jedenfalls nichts unterwandern
oder zerstören. Ich habe versucht, es noch gehaltvoller
zu machen, indem ich echte Emotion hineinbringe. Das ist eine
so wunderbare Mischung: Emotion und Musik. Gene Kelly hat das
bis zu einem gewissen Grad geschafft und auch die West
Side Story. Die meisten Musicals dienen ja der reinen
Unterhaltung, aber ich glaube, es kann noch viel mehr drinstecken.
Die Technik der handgehaltenen Videokamera haben wir auch bei
den Musicalszenen angewandt, um diese wie zufällig eingefangene
,Live'-Qualität zu bekommen. Wenn man mit mehreren fest
montierten Kameras arbeitet, statt eine Szene nur für eine
einzige Kamera aufzulösen, dann sollte man es schaffen,
die Szene NICHT zu kontrollieren. Man stellt viele Kameras auf
und bekommt manch gute Aufnahme geschenkt, so wie es einem mit
der handgehaltenen Kamera auch geht.
Wenn man diesen Stil des ,beiläufigen' Filmemachens, in
dem wir schon Breaking the Waves und Idioten gedreht
hatten, auf die Tanzszenen übertragen könnte, dann
wäre das schon ein Anfang. Das ist keinesfalls perfekt.
Es war sowas wie ein erster Versuch, aber die 100 Kameras gaben
uns ein paar ,golden moments', die wir nicht bekommen hätten,
wenn wir mit einem Storyboard gearbeitet hätten.
Tatsächlich hätten wir ohne weiteres noch mehr Kameras
brauchen können. Wir hatten 100 und hätten nochmal
100 gebraucht. Was diese Technik in jedem Fall gezeigt hat, ist,
wie man mit geringen Kosten relativ viel ,production value' bekommt.
Für eine Szene haben wir zwei Tage lang für 100 Kameras
getanzt. Hätten wir nur eine Kamera und ein Storyboard gehabt,
hätten wir zwei Wochen lang dran gedreht.
Hätte ich zu Beginn meiner Karriere ein Musical gedreht,
hätte ich es mit Sicherheit sehr traditionell gemacht, mit
vielen Kamerafahrten und Schwenks. Logisch, so lässt man
Bild und Musik ineinandergreifen. Aber jetzt neige ich dazu,
meinen eigenen Regeln zu folgen, deshalb habe ich mir gedacht,
,Nein, machen wir doch das genaue Gegenteil und verwenden nur
feststehende Kameras.'
Der Gedanke dahinter war, mehr Bilder ,geschenkt' zu bekommen
und die Kontrolle aufzugeben. Die Szene wirkt dann wie eine Live-Übertragung
oder ein Bühnenauftritt, nicht etwas ,Inszeniertes'. Wenn
man ein Konzert sieht, wo zum Beispiel auf der Bühne jemand
singt, dann will man näher ran gehen, weil man weiß,
dass das nicht nachträglich zusammengefügt worden ist.
Vielleicht kann man den Unterschied ja nicht sehen, aber man
kann ihn in jedem Fall fühlen. Im Kino
ist die Direktübertragung nicht besonders beliebt, weil
die Leute glauben, das gehöre zum Fernsehen oder zum Theater.
Aber die Richtung, in die ich mich nun schon seit einiger Zeit
bewege, geht eher zur Direktübertragung."
Die Musik und künstlerische Zusammenstösse
"Das Beste wäre gewesen, wenn wir alle Sing- und Tanznummern
live aufgenommen hätten, mit allen Fehlern und Patzern.
Björk hatte anfangs auch die sehr gute Idee, dass die Songs
live gesungen und aufgenommen werden sollten, aber leider haben
wir das technisch nicht hingekriegt. Die Logistik erwies sich
als zu schwierig.
Der Musikstil ist nun das Resultat eines Zusammenpralls zwischen
mir und Björk. Sie kennt sich mit Musik aus, und der Film
handelt von einer Frau, die die gleichen Musicals mag wie ich
in meiner Kindheit. Das größte Problem bei einem Musical
ist natürlich, dass man wissen muss, welche Musik man verwendet,
und ich hatte da überhaupt keine Ahnung. In dem Punkt kam
Björk dazu, und ich mag die Musik, die sie geschrieben hat,
wirklich sehr. An manches davon musste ich mich erst gewöhnen,
aber nun gefällt sie mir sehr, und sie ist ein wichtiger
Bestandteil des Films. Ich hätte mir keinen besseren Künstler
wünschen können. Am Tag bevor die Dreharbeiten begannen,
fiel mir dann ein, dass ich eines ganz vergessen hatte: die Probeaufnahmen
mit Björk! Aber sie hat eine unglaubliche Darstellung gegeben,
und die ist nicht ,gespielt', sie ist gefühlt.
Dieser Zusammenstoß von Kulturen und Menschen und den
verschiedenen Arbeitsweisen ist das, was das Filmemachen so interessant
macht. Catherine Deneuve hat sich selbst engagiert: Sie hat mir
einen Brief geschrieben und gefragt, ob sie eine Rolle haben
könnte, und ich habe gesagt, ,Klar!' Irgendwie schien es
mir logisch, ihr die Rolle von Björks ,Partner' anzubieten,
die andere Hälfte diese seltsamen Paares, und mir gefallen
die beiden zusammen. Obwohl Musicals eine amerikanische Domäne
sind, gibt es auch welche aus Europa, und ich kenne die, in denen
Catherine Deneuve mitgespielt hat. Bis zu einem gewissen Grad
haben mich die Szenen in diesen Filmen inspiriert."
Der Schauplatz
"Dancer in the Dark spielt in Amerika, weil Musicals
dort herkommen, aber auch weil ich selbst dort vermutlich nie
hinfahren werde. Ich fliege nämlich nicht. Für mich
ist Amerika irgendwie ein mythisches Land. Wir haben in Schweden
gedreht und an Orten, die amerikanisch aussahen, und das war
vielleicht sogar interessanter als wirklich nach Amerika zu gehen.
Ich muss da immer an Kafkas ,Amerika' denken. Er war ja auch
nie dort, und auf den ersten Seiten, wo er in den Hafen von New
York einfährt, beschreibt er die Freiheitsstatue mit einem
großen Schwert in der Hand... Ich fand das immer sehr poetisch.
Die Todesstrafe
Ich glaube, die meisten Menschen in Dänemark halten die
Todesstrafe für etwas sehr Fremdes. Ich will damit nicht
sagen, dass die Dänen humaner sind als andere Völker,
aber diese Tradition ist den Skandinaviern einfach fremd. Für
mich ist Strafe im allgemeinen ein Paradox, aber ich schätze,
das braucht es nun mal, wenn eine Gesellschaft funktionieren
soll.
Die Todesstrafe allerdings scheint mir keine wirkliche ,Strafe'
zu sein, sondern eher eine Rache, und ich halte es für gefährlich,
wenn man dem Staat das Recht gibt, Rache zu üben. Ich bin
zutiefst gegen die Todesstrafe. Auf der anderen Seite sind Hinrichtungsszenen
Gottes Geschenk an die Regisseure. Sie sind enorm wirkungsvoll.
Und wenn man schon ein Märtyrer sein muss, dann muss man
auch sterben..."
Über die Blindheit
"Selmas Hinrichtung ist ein Teil des Melodrams, ebenso
wie ihre Blindheit. In der ersten Drehbuchfassung, die ich Björk
geschickt habe, war sie noch nicht blind, aber dann habe ich
diesen wunderbaren Warner-Brothers-Zeichentrickfilm gesehen,
wo ein Polizist in New York eine Puppe findet und sie seiner
Liebsten mitbringt, für ihre Tochter. Das kleine Mädchen
sitzt auf der Treppe, spielt mit ihrer Puppe und läßt
sie fallen. Sie will sie dann aufheben und tastet auf dem Boden
danach, ohne hinunterzusehen - das ist alles, was man sieht,
und man versteht sofort, dass sie blind ist. Sehr wirkungsvoll,
sehr präzise.
Der Gedanke dahinter ist, dass das Mädchen noch nie ihre
Mutter gesehen hat oder die Stadt, und dass da nur eine Menge
Geräusche um sie herum sind. Das kommt tatsächlich
der Geschichte von Dancer in the Dark ziemlich nahe.
Das Mädchen stellt sich dann vor, dass die Puppe zum Leben
erwacht und sie herumführt, um ihr die Stadt zu zeigen.
Sie stellt sich vor, dass die U-Bahn eine Achterbahn ist und
dass überall Blumen sind, was natürlich nicht stimmt,
denn sie lebt in einem Slum in New York. Und dann stellt sie
sich vor, dass sie ihre Mutter sieht - sehr melodramatisch und
sehr bezaubernd."
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