Kurt Tucholsky in Berlin und Gripsholm
I.
Als die Liebesgeschichte "Schloss Gripsholm" im Mai
1931 als Buch bei Ernst Rowohlt in Berlin erscheint (als Fortsetzungsroman
war sie zunächst zwischen März und April im Berliner
Tageblatt abgedruckt worden), macht Kurt Tucholsky schon seit
langem einen großen Bogen um seine Heimatstadt.
Bereits 1924 hatte sich der Urberliner, geboren am 9. Januar
1890 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns im Bezirk Moabit,
der in seinen Texten gern und gekonnt die märkische Mundart
benutzte, nach Paris abgesetzt, um von dort als Korrespondent
für die Weltbühne und die Vossische Zeitung zu berichten.
Seitdem kehrt er nur noch als Besucher zurück, ein Durchreisender
Richtung Skandinavien etwa und dann wieder Richtung Schweiz oder
Österreich. Und schließlich bleibt er ganz aus, ja,
setzt seinen Fuß gar nicht mehr auf deutschen Boden.
Bereits im Sommer 1929 trifft der weitsichtige Publizist und
Schriftsteller, angesichts des allgemeinen politischen Klimas
wie der gegen ihn persönlich gerichteten üblen Angriffe
und Drohungen der Rechten eine Entscheidung, von der nur seine
intimsten Freunde erfahren: Das neutrale Schweden wird sein künftiges
Exil. Für den Rest der Welt, Bruder Fritz eingeschlossen,
wird bis zu seinem Tode eine Tarnadresse in Zürich genügen
müssen.
In Kurt Tucholskys eigenhändiger Vita für den Einbürgerungsantrag
zur Erlangung der schwedischen Staatsbürgerschaft, verfasst
im Januar 1934, heißt es:
"Nachdem T. [d.i. Tucholsky] bereits als Tourist längere
Sommeraufenthalte in Schweden genommen hatte (1928 in Kivik,
Skåne, und fünf Monate im Jahre 1929 bei Mariefred),
mietete er im Sommer 1929 eine Villa in Hindås, um sich
ständig in Schweden niederzulassen. Er bezog das Haus, das
er ab 1. Oktober 1929 gemietet hat, im Januar 1930 und wohnt
dort ununterbrochen bis heute."
Fast ein Jahr nach diesem Schreiben, am frühen Nachmittag
des 19. Dezember 1935, wird er im Schlafzimmer der "Villa
Nedsjölund", einem idyllischen Anwesen mit großem
Garten und Seeblick, eine tödliche Dosis Veronal nehmen.
Wissentlich oder aus Versehen? - Darüber streiten die Gelehrten.
Kurt Tucholsky stirbt im Sahlgrenschen Krankenhaus von Göteborg
am 21. Dezember 1935 ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Am 11. Juli 1936 findet in aller Stille auf dem kleinen Friedhof
in Mariefred bei Schloss Gripsholm, den Tucholsky selbst in seinem
Liebesroman beschrieben hat, die Urnenbeisetzung statt.
Der Film Gripsholm verknüpft Tucholskys eigene
Sommererlebnisse in Schweden, die ihn dann zu seinem Kurzroman
anregen, mit dem Entschluss, nicht nach Deutschland zurückzukehren.
Tatsächlich belegen zahlreiche Dokumente diesen Zusammenhang,
unabhängig davon, ob das Script aus dramaturgischen Erwägungen
einen späteren Zeitpunkt für diese Sommerfrische wählt
und sich daher der Abschied von der Heimat und den Freunden in
der Realität nicht so überstürzt vollzog, wie
er auf der Leinwand geschildert wird. So reiste Tucholsky auch
noch durch die Republik, nachdem er bereits seinen Wohnsitz in
Hindås im Februar 1930 bezogen hatte.
Im September 1930 kehrt er nach einem Aufenthalt in einem Sanatorium
bei Luzern über Berlin nach Schweden zurück - und macht
sich an die Niederschrift von "Schloss Gripsholm".
Tucholsky hat den genauen Ablauf auf seiner Manuskriptmappe penibel
festgehalten:
" - Schloss Gripsholm -
Die Geschichte eines Sommerurlaubs
Angelegt: 1.10.30
erster Entwurf beendet: 17.12.30
Abgeschlossen: 31.12.30
ohne Fahnen-Korrekturen"
Als der Autor diese Mappe anlegt, ist die Idee zu seiner Liebesgeschichte
um zwei Großstadtpflanzen in Schwedens Natur bereits über
ein Jahr alt. Sie wurde geboren, als Tucholsky gemeinsam mit
seiner Geliebten, der Journalistin Lisa Matthias, von Anfang
Mai bis Mitte Oktober 1929 in dem kleinen Badeort Fjälltorp
Läggesta am Ufer des Mälarsees gegenüber Schloss
Gripsholm logierte.
In dieser Zeit beendet er nicht nur sein Buch "Deutschland,
Deutschland über alles", schreibt Artikel, auch Chansons,
und führt einen lebhaften Briefwechsel, sondern sucht auch
intensiv nach einem neuen Domizil für die Zukunft. Schließlich
findet er die "Villa Nedsjölund" in Hindås,
an der Westküste, nicht weit von Göteborg und setzt
im August seine Unterschrift unter den Mietvertrag.
Wie weise diese Entscheidung war, führt ihm eine ausgedehnte
Vortragsreise durch Deutschland vor Augen, die er im Herbst antritt:
"In Wiesbaden wurde nach seiner Lesung ein Arzt, den man
mit ihm verwechselt hatte, angefallen und verletzt. Der Aufenthalt
in Deutschland, in dem äußerlich so ordentlichen und
rechtschaffenen Deutschland von 1929, war für diesen unliebsamen
Schriftsteller bereits mit Gefahren verbunden. Nach dieser Reise,
bei der er Feinden und Anhängern von Angesicht zu Angesicht
begegnet war, ist er, wie er in einem späteren Brief bekannte,
stiller und stiller geworden."
(Aus: Hans Prescher, "Kurt Tucholsky" - Berlin 1986.)
In einem Brief an den Bruder vom 18. Januar 1931 heißt
es unter Anspielung auf die Ermordung Karl Liebknechts (1919):
"Mein Weg führte unbedingt in das Liebknechtschicksal
- (...) Schlügen sie mich heute tot: was wäre dann?
Dann kriegte ich einen Nekrolog, und den kann ich mir auch alleine
schreiben. Es lohnt nicht."
II.
Tucholsky hat seiner Sommergeschichte eine mysteriöse Widmung
vorangestellt, die zum amourös-verspielten Ton der Erzählung
passt: "Für IA 47 407". Während wir Nachgeborenen
im Dunkeln tappen, werden die Zeitgenossen sofort erkannt haben,
dass es sich hier um eine Autonummer handeln muss, aber wer ist
der Fahrzeughalter?
"Ich! Ich!", hat Lisa Matthias in ihrem berühmt-berüchtigten
'Enthüllungsbuch' "Ich war Tucholskys Lottchen"
1962 ausgerufen und dabei stolz mit den Wagenpapieren gewedelt:
"IA 47 407 - das war meine Autonummer." Spricht da
die "Prinzessin"? Oder anders gefragt: Inwiefern hat
Tucholsky Autobiographisches in seiner Sommergeschichte verarbeitet?
Der Autor in einem Brief vom 6. Mai 1931: "In den langen
Wintermonaten, in denen ich mich mit 'Gripsholm' beschäftigt
habe, hat mir nichts soviel Mühe gemacht, wie diesen Ton
des wahren Erlebnisses zu finden. Außer einem etwas vagen
Modell zu Karlchen und der Tatsache, dass es wirklich ein Schloss
Gripsholm gibt, in dem ich nie gewohnt habe, ist so ziemlich
alles in dieser Geschichte erfunden: vom Briefwechsel mit Rowohlt
an bis zur (leider! leider!) Lydia, die es nun aber gar nicht
gibt."
Tucholsky selbst hasste Schlafzimmer-Schnüffelei. Festzuhalten
bleibt, dass sich die Grundkonstellation des Romans (ein deutsches
Liebespaar in Schweden) mit seiner eigenen Situation im Sommer
1929 deckt, und dass die Idee der Freien Liebe jenseits bürgerlicher
Moral, ohne Besitzdenken, so wie sie für wenige Tage von
Kurt, Lydia und Billie gelebt wird, für den Schriftsteller
und Erotomanen Tucholsky keineswegs graue Theorie war, sondern
von ihm fast ein Leben lang praktiziert wurde, mit allen Widersprüchen,
Verwundungen und Dramen, die das wirkliche Leben am Morgen und
in den Wochen oder auch Jahren danach zu bieten hat.
Was den "frivolen" Höhepunkt von "Schloss
Gripsholm" anbelangt, so verweist Gerhard Zwerenz in seiner
Biographie auf einen aufschlussreichen Briefwechsel kurz nach
Veröffentlichung des Buches. "Als dem mehr auf Kafkas
Zurückhaltung abonnierten Max Brod die erotische Szene missfiel,
antwortete ihm Tucholsky am 24. 5. 1931: 'Über die kleine
Szene à trois müssten wir uns einmal unterhalten
- zu grob ist sie ja wohl nicht...' - Da kommt der Stolz des
Erotikers ebenso wie der des Schriftstellers zum Vorschein, die
sich der Eleganz ihrer Arbeit bewusst sind. Doch der geübte
Liebhaber kann sich nicht enthalten, noch eine ebenso witzige
wie verdeckt provozierende Wendung anzuschließen: '...
und haben Sie etwas gegen die Realität solcher Dinge?',
fragt er keck an. - Tucholsky hatte, offensichtlich, nichts dagegen,
und er verschwieg es nicht." (Aus: "Kurt Tucholsky.
Biographie eines guten Deutschen." - München 1979.)
Nebenbei: Die Beziehung zu Lisa Matthias, die Anfang 1927 begonnen
hatte, kühlte bereits 1930 merklich ab. Und wenige Wochen
bevor "Gripsholm" in den Buchhandel kam, waren sie
geschiedene Leute.
III.
"Schloss Gripsholm", "Ein Reisebuch nach Schweden
voll von frischer Luft, Liebe, Freundschaft, Mitleid und klarem
Weltblick" (Anzeige des Berliner Tageblatts für den
Vorabdruck), erfreut sich beim Publikum großer Beliebtheit
und entwickelt sich rasch zum Bestseller.
Auch das Presseecho ist fast einhellig positiv: "Der Autor
und eine schöne, hinreißend klug-alberne Freundin
fahren zusammen ein paar Sommerwochen nach Schweden, sein Freund,
ihre Freundin besuchen sie, man sonnt sich, liebt sich, vergisst
Deutschland (und vergisst es doch nie, nie!), ein Kind wird aus
den Klauen eines Drachen gerettet - das ist alles. Das ist alles?
Nur eben diese Kleinigkeit fehlt noch: wie das erzählt ist,
daran können einige tausend Romanciers 'vom Fach' lernen,
was gottlob nicht zu lernen ist", meinte Herbert Günther
in der 'Literatur'. The Times pries den Übermut der Geschichte,
Books abroad brachte Tucholsky in die Nähe von Laurence
Sterne, auch schwedische Zeitungen lobten das Buch. Die meisten
Rezensenten feierten 'Schloss Gripsholm' als zweites 'Rheinsberg',
hoben den Humor und die Leichtigkeit hervor, mit der das Buch
geschrieben sei."
(Aus: "Kurt Tucholsky, dargestellt von Michael Hepp".
- Reinbek bei Hamburg 1998.)
Die Erfolgsgeschichte dieses kleinen Romans nimmt mit der Machtergreifung
der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 ein jähes Ende.
Nach Beginn der Hitler-Herrschaft publiziert Tucholsky keine
Zeile mehr. Seine Bücher werden bei der am 10. Mai 1933
inszenierten Verbrennung von Werken unliebsamer Autoren ins Feuer
geworfen. Auf der ersten Liste von Personen, denen im August
1933 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wird, "weil
sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen
Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt
haben", findet sich auch der Name Kurt Tucholsky.
IV.
Im Deutschland der Nachkriegszeit findet sein Gesamtwerk dank
der unermüdlichen editorischen Tätigkeit seiner Universalerbin,
Mary Gerold-Tucholsky, im Bunde mit dem Rowohlt Verlag weite
Verbreitung.
Die Neuauflage von "Schloss Gripsholm" erscheint 1950
als rororo Taschenbuch Nr. 4 - ein Jahrzehnt später sind
bereits fast 500.000 Exemplare verkauft. Zu noch größerer
Popularität verhilft dem Roman die erste Verfilmung 1963
durch Kurt Hoffmann (Buch: Herbert Reinecker), in den Hauptrollen
das "Traumpaar" Walter Giller und Nadja Tiller. Verliebte
unter 18 müssen freilich draußen bleiben, dafür
sorgt die FSK. Kleiner Trost für Jugendliche - die Philips-Langspielplatte
zum Buch mit Erich Schellow und Heidemarie Theobald.