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Joe Goulds Geheimnis
Produktionsnotizen
Der Sonderling und der Reporter
[Foto: Hope Davis als Photographin Therese Mitchell]
Das Herzstück von Joseph Mitchells Artikeln, die er in
der Zeitschrift The New Yorker veröffentlichte,
sind seine Geschichten über Joe Gould, einen eingestandenen
Sonderling. "Schaut mich nur an" sagt Gould (Ian Holm),
"das Einzige, was mir passt, ist meine Krawatte."
New York in den Vierzigern. Joseph Mitchell (Stanley Tucci)
trinkt einen Kaffee in einem Coffee Shop seiner Nachbarschaft,
als ein kleiner, ungepflegter Mann das Café betritt und
vom Besitzer etwas zu essen verlangt. Als ihm der Koch einen
Teller Suppe serviert, leert Gould fast eine ganze Ketchup-Flasche
in die Schüssel, bevor sie ihm wieder weggeschnappt wird.
"Ich mag das Zeug nicht besonders gerne", erklärt
er, "aber ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, alles
zu essen, was ich kriegen kann. Es ist das einzige, was man
umsonst bekommt."
Er löffelt seine Suppe, schnappt sich einen Zigarettenstummel
aus einem Aschenbecher und geht. Als Mitchell den Coffee Shop
verlässt, beobachtet er, wie Gould den Zigarettenstummel
in eine Zigarettenspitze steckt.
Tage später. Mitchell kommt an einem Café vorbei,
in dem Gould für die Gäste rezitiert und für seine
Darbietung mit Applaus und einige Almosen belohnt wird. Mitchell,
der beim New Yorker für seine
Porträts und Reportagen über Stadt-Exzentriker und
obskure Gestalten berühmt ist, ist fasziniert von diesem
kleinen zerknitterten Mann.
Am nächsten Tag kehrt er zu dem Coffee Shop zurück
und erfährt mehr über den exzentrischen Mann, der sich
manchmal rühmt, der letzte lebende Bohemien zu sein. Er
heißt Joe Gould und will das längste Buch der Welt
schreiben: The Oral History of Our Time. Sein
ganzes Leben verbringt er damit festzuhalten, was Menschen in
ihrem Alltag sagen. Seine Oral History besteht
aus Gesprächen und Erzählungen, die er aufgeschnappt
hat und die ihm so bedeutungsvoll erschienen, dass er sie notiert,
entweder wörtlich oder zusammengefasst. Gould hat sein Buch
schon vor 26 Jahren begonnen, und ein Ende ist nicht im Entferntesten
abzusehen.
Joe Gould hat sich entschlossen, niemals mehr einer geregelten
Tätigkeit nachzugehen, stattdessen ist er abhängig
von Freunden und anderen, die ihm wohlgesonnen sind und seine
armselige Existenz durch finanzielle Zuwendung in den "Joe
Gould Fund" unterstützen. Er lebe von "Luft, Selbstbewusstsein,
Zigarettenstummeln, Cowboy Coffee, gebratenen Eier-Sandwiches
und Ketchup", erzählt Gould, und nachts schläft
er in Treppenhäusern, dem Obdachlosenheim, falls dort Platz
ist, oder in dem Eingangsportal der katholischen Kirche im Village.
"Jeden Tag", schreibt Mitchell, "selbst, wenn
er einen Kater hat, sich schwach fühlt oder lustlos vor
Hunger ist, schreibt Joe Gould in seine Schulhefte. Wenn sie
vollgeschrieben sind, lagert er sie übergangsweise bei Freunden
ein, um sie dann auf einer Hühner- und Entenfarm auf Long
Island zu verstecken, wo sie sicher verwahrt sein sollen."
Als Gould erfährt, daß Mitchell ihn sucht, taucht
er in der Redaktion des New Yorker auf, und
so beginnt eine Beziehung, die Mitchell für viele Jahre
in ihren Bann ziehen wird...
New York, New York
Stanley Tucci, geboren und aufgewachsen in Kantonah in Westchester
County, New York, hat aufgrund seiner engen Verbindung zu der
Stadt immer versucht, seine Filme in New York zu drehen. Wie
Woody Allen, der ein Vorbild für ihn ist: "Er hat immer
die Filme gemacht, die er machen wollte. Immer in New York gedreht
und meistens mit der gleichen Gruppe von Leuten gearbeitet. Gar
keine Frage, dass ich das auch versuche."
Tucci ist fasziniert von dem Geschmack und dem Stil der vierziger
Jahre. Diese Ära hat alle drei Filme beeinflusst, die er
produzierte, inszenierte und schrieb. "Ich gebe zu, dass
ich von allem Alten fasziniert bin, besonders von der Zeit der
großen Depression. Es herrscht große Armut, aber
die Leute haben sich gegenseitig stark unterstützt. Ich
mag die Musik, die Politik und die Ästhetik dieser Zeit.
Selbst als Kind habe ich stets über diese Ära nachgedacht,
in der meine Eltern aufwuchsen. Ich habe mit Zeitgenossen gesprochen
und mir von früher berichten lassen: New York in den vierziger
und frühen fünfziger Jahren, das war wie Paris in den
Zwanzigern."
Diese Zeit und als Hintergrundkulisse die Stadt New York, die
selbst eine große Rolle in dem Film spielt, gaben ein ideales
Material für den Filmemacher ab. Doch dieses Material lag
bis dahin im Dornröschenschlaf verborgen...
Der vergessene Autor
Joseph Mitchell war ein langjähriger Autor des New
Yorker. In einer besonders fruchtbaren Phase in der
Geschichte des Magazins verfasste er Porträts, die zu einer
Chronik von New Yorks Bewohnern geriet. Er kannte Joe Gould bereits,
doch erst als Mitchell mit seiner Familie, der Fotografin Therese
Mitchell und seinen zwei Töchtern, nach Greenwich Village
zog, nahmen seine Artikel Gestalt an.
Mitchell erfuhr, dass Gould an einer "mündlich überlieferten
Geschichte unserer Zeit" schrieb. Aus ihrer Bekanntschaft
sollte sich eine zehnjährige Beziehung entwickeln. Mitchell
war so fasziniert von dem kleinen zerzausten Mann, dass er ihn
überredete, Gegenstand einer seiner Artikel zu werden.
Sein Porträt über Joe Gould erschien am 12. Dezember
1942 unter dem Titel "Professor Seagull"
im New Yorker. Seine zweite Story Joe
Gould's Secret erschien 1964, also nach dessen Tod.
1965 wurden die beiden Geschichten in dem Buch Joe Gould's
Secret, veröffentlicht, und 1992 erschien eine
Sammlung von Mitchells Essays und Kurzgeschichten unter dem Titel
Up in the Old Hotel, in der auch beide Erzählungen
über Joe Gould enthalten waren. Mitchells Beschreibungen
fangen die längst vergangene Zeit sehr plastisch ein.
Los Angeles, in den späten achtziger Jahren. Der Produzent
Michael Lieber las im New Yorker einen Artikel
von Janet Malcolm, der später die Grundlage für das
Buch The Journalist and the Murderer werden
sollte. Darin stellte Malcom die Frage nach der Verantwortlichkeit
des Autors, wenn er über das Leben eines anderen schreibt.
Ihrer Meinung nach waren die besten Artikel, die je dazu verfasst
wurden, Truman Capotes In Cold Blood und Joseph
Mitchells Joe Gould's Secret.
Neugierig geworden, versuchte Lieber, Joe Gould's Secret
in den Buchhandlungen von L.A. aufzutreiben, konnte es jedoch
nicht finden. Niemand, mit dem er sprach, hatte es gelesen oder
je von Joseph Mitchell gehört. Schließlich stöberte
er ein Exemplar des Buchs, das seit zwei Jahrzehnten nicht mehr
aufgelegt wurde, in einem Antiquariat auf - ein Buch, das Janet
Malcolm immerhin als "Meisterwerk seines Genres" beschreibt.
"Es zog mich sofort in seinen Bann", erinnert sich
Lieber noch heute, "sobald ich es gelesen hatte, schwärmte
ich jedem davon vor, was für einen tollen Filmstoff es abgeben
würde. Ich wusste damals nicht, ob Mitchell überhaupt
noch lebte, doch da seine Bücher vergriffen waren, er nichts
mehr schrieb und ohnehin niemand von ihm zu wissen schien, nahm
ich an, er sei tot. Ich forschte nach und überraschenderweise
stieß ich auf seinen Agenten. Ich erkundigte mich nach
den Filmrechten und bekam den Rat, Mitchell selbst beim New
Yorker anzurufen, doch sein Agent war sich sicher, dass
ich allenfalls eine freundliche Absage ernten würde."
Und er sollte recht behalten. Mitchell lehnte Liebers Bitte
ab, und obwohl sich zwischen ihnen eine Freundschaft entwickelte,
blieb Mitchell bei seinem Nein. Es kostete Lieber sechs Jahre,
den Reporter doch noch zu überreden: "Mitchell hatte
einen Nachdruck seiner Bücher stets abgelehnt, weil er nicht
wollte, dass sie verfilmt würden. Doch nachdem er erst einmal
seine Zustimmung zu der Artikelauswahl Up in the Old
Hotel gegeben hatte, wurde er auch für die Filmidee
ein wenig zugänglicher. Da hatte ich das Fragen jedoch schon
längst aufgegeben. Als er schließlich grünes
Licht gab, konnte ich es daher kaum fassen."
Lieber gab die Geschichte in die Hände von Howard Rodman,
einem Schriftsteller und Drehbuchautor, den er für besonders
geeignet für das Projekt hielt. Für die nächsten
anderthalb Jahre arbeitete Rodman eng mit Lieber und dem Produzenten
Charles Weinstock zusammen, bis das Drehbuch fertig war.
Von der Nachttischlektüre auf die Kinoleinwand
Weinstock finanzierte die Geschichte zunächst aus eigener
Tasche, während Rodman und Lieber sich auf die Suche nach
dem geeigneten Regisseur machten. "Dann sahen wir Big
Night und wussten, dass wir endlich unseren Mann gefunden
hatten", erinnert sich Weinstock, und Lieber ergänzt:
"Die Geschichte zweier Brüder, die für ihr Restaurant
kämpfen, hätte glatt von Mitchell stammen können."
Wie sich zeigen sollte, kannte Tucci die Arbeiten von Mitchell
sogar sehr gut. Up in the Old Hotel lag auf seinem Nachttisch.
"Meine Frau hatte mir das Buch vor sechs Jahren gegeben,
und seither liegt es immer neben meinem Bett. Die Geschichten
gingen mir nie aus dem Kopf. Darum war ich höchst erfreut,
als das Drehbuch auf meinem Schreibtisch landete."
Tuccis Partner in seiner Produktionsfirma, Elisabeth W. Alexander,
fährt fort: "Vor etwa fünf Jahren saßen
Stanley und ich im Auto und phantasierten über die Filme,
die wir gerne machen würden. Tucci zählte zehn Ideen
auf - eine davon lautete 'alles, was auf einer Erzählung
von Joseph Mitchell basiert`. Als uns dann Jahre später
das Script zu Joe Goulds Geheimnis erreichte, wussten
wir: Entweder wird es grauenhaft, oder es wird der Film.
Naja, Sie wissen, was daraus wurde..."
Tuccis und Alexanders Produktionsfirma First Cold Press brachten
das Projekt gemeinsam mit October Films und Weinstock auf den
Weg.
Casting - Wer spielt Joe Gould?
Im Gegensatz zu Tuccis ersten beiden Spielfilmen Big Night
und The Imposters, die große Ensemblefilme waren,
ist Joe Goulds Geheimnis ein sehr viel intimerer Film.
Von Anfang an gab es nicht den geringsten Zweifel darüber,
daß Ian Holm die Hauptrolle spielen sollte. Als italienischer
Restaurantbesitzer Pascal hatte Holm in Big Night kundgetan:
"Bite your teeth into the ass of life and drag it to you!"
Ian Holm war daher auch der erste Schauspieler, den Tucci ansprach.
Nachdem er das Drehbuch gelesen hatte, sagte er sofort zu: "Diese
Rolle ist ein Geschenk. Die Dialoge, die hier geschrieben stehen,
sind ein Traum für jeden Schauspieler."
Aber wer könnte Joseph Mitchell spielen? "Ich wusste
damals auf Anhieb, dass ich bei dem Film Regie führen, aber
ich war mir nicht sicher, ob ich auch darin mitspielen wollte",
so Tucci. "Ich arbeitete gerade an dem Skript, das ich October
Films bis zu einem bestimmten Termin zugesagt hatte, und gleichzeitig
machte ich PR für einen anderen Film. Außer dass ich
ganz sicher war, dass Ian die Rolle von Joe Gould spielen sollte,
hatte ich mir über die weitere Besetzung noch gar keine
Gedanken machen können."
Doch bald entschied er sich, den Part selbst zu spielen, u.a.
weil er so begierig darauf war, noch einmal mit seinem Freund
Ian Holm gemeinsam vor der Kamera zu stehen.
Für die Rolle der Therese Mitchell wählte Tucci eine
Schauspielerin, mit der er ebenfalls bereits zuvor gearbeitet
hatte: Hope Davis. Die in New York lebende Aktrice hatte bereits
in zwei anderen Filmen mit Tucci gespielt und gehörte zum
Ensemble von The Impostors.
Für die Rolle der Vivian Marquie, einer alten Freundin
von Gould und Besitzerin einer Kunstgalerie auf der 57. Straße,
wählte Tucci Patricia Clarkson. "Alle New Yorker Schauspieler
lieben es, mit Stanley zu arbeiten", erläutert sie.
"Er hat einen unvergleichlich guten Geschmack."
Gould besuchte Marquies Galerie einige Male in der Woche, um
Spenden für den "Joe Gould Fund" zu sammeln. Die
Filmemacher konnten das 50 Jahre später leider nicht mehr:
Die Galerie existiert nicht mehr. Die Salander-O'Reilly-Galerie
an der Kreuzung 79. Straße und Madison Avenue doublete
daher Marquies Ausstellungsräume. Da sie offiziell Lachaises
Nachlass verwaltet, konnte die Salander-O'Reilly-Galerie die
Produktion auch mit den Skulpturen von Gaston Lachaise unterstützen,
die im Film zu sehen sind. Die größte dieser Figuren
ist der Akt Garden Figure aus dem Jahr
1935. Unabhängig davon stellte die Galerie ein Schwarz-Weiß-Gemälde
von Stuart Davis zur Verfügung, das als Hintergrund für
die Szene dient, in der Gould das erste Mal die Galerie betritt.
Dreharbeiten
Die Dreharbeiten begannen im März
1999. An 35 Drehtagen wurde an 43 verschiedenen Locations gefilmt,
was hieß, dass oft sogar an einem Tag mehrmals der Drehort
gewechselt werden musste.
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