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Quills - Macht der Besessenheit
Der Marquis in der Öffentlichkeit
von Doug Wright
Als der Marquis de Sade im Jahr 1814 starb, hatte er für
einen Menschen, der sein Leben so vollkommen dem Skandal und
dem öffentlichen Aufsehen gewidmet hatte, einen ungewöhnlichen
letzten Wunsch: Er wollte anonym in einem Dickicht beerdigt werden,
damit "alle Spuren meines Grabes vom Angesicht der Erde
verschwinden, so wie ich hoffe, dass alle Spuren meines Andenkens
aus der Erinnerung der Menschheit gelöscht werden".
Kein Glück gehabt. Seit mehr als zwei Jahrhunderten haben
Gelehrte, Kritiker und andere Künstler das Grab des Marquis
durchwühlt, um ein schlüssiges Bild dieses Mannes zu
zeichnen. Die Meinungen sind geteilt. Einige imposante Denker
- Artaus, Nietzsche, Kraft-Ebbing, Angela Carter und Camille
Paglia sind unter ihnen - halten Sade für ein unbesungenes
Genie, einen "Professor emeritus" des Bösen. Einige
feiern seine "Justine" gar als literarisches Meisterwerk,
das es mit den Satiren eines Jonathan Swift aufnehmen kann. Die
Surrealisten erklärten Sade zu ihrem Schutzheiligen, nennen
ihn den "größten Freigeist, der jemals lebte".
Andere - wie Louis Bongie und Roger Shattuck - sind nicht so
großzügig. Sie verachten die bloße Idee, dass
man sich mit Sade beschäftigt. Seine Schriften werden als
monoton, seine Philosophie als unoriginell und sein Einfluss
auf die Welt des geschriebenen Wortes bestenfalls als toxisch
verlacht. Sie behaupten, dass sein einziger Beitrag zur Weltkultur
bestenfalls ein etymologischer ist: Das Wort "Sadismus"
wird von seinem Namen abgeleitet. Shattuck nennt Sade sogar einen
"bösartigen Evangelisten" und schließt nicht
aus, er könne schuld an den Moors-Morden von 1965 und den
Serienmorden eines Ted Bundy sein.
Wessen Einschätzung ist richtig? War Sade ein abscheulicher
Pornograph oder ein vielfach verleumdetes Genie? Oder - und das
ist richtig verstörend - war er gar beides?
Sades Fiktion ist extremer als alles, was man in der zeitgenössischen
Kultur findet. Seine Prosa kann schonungslos witzig und im nächsten
Moment wieder über alle Maßen abstoßend sein.
Sie erstreckt sich von treffender Sozialsatire über Masturbationsfantasien
zu Szenen, die so verkommen - so grotesk - sind, dass sie neue
Maßstäbe an Perversität in der Literatur setzten.
In Sades 1795 veröffentlichtem Roman "Philosophie
des Boudoirs" wird eine alternde Witwe gewaltsam mit Syphillis
infiziert. In "Justine" aus dem Jahr 1791 blutet ein
vampirischer Ehemann seine Frau rituell aus, bis sie stirbt.
Und in "Juliette" von 1797 zelebriert Sades monströseste
Heldin eine schwarze Messe mit dem Papst, in deren Verlauf ein
schwangeres Kind auf dem Altar des Vatikans geopfert wird. Koprophilie,
Selbstverstümmelung, Nekrophilie und Päderasmus gehören
zum Repertoire von Sade. Die ausgedehnten sexuellen Eska-paden
werden unterbrochen von philosophischen Schmähreden, die
nihilistischer als Nietzsches sind.
Das Chaos regiert in einem gottlosen Universum, nackte Gewalt
triumphiert über die Moral, und Gewalt ist der einzige sichere
Weg zum Vergnügen.
Wenn man sie in chronologischer Reihenfolge liest, erlauben
Sades Romane - tatsächlich - einen faszinierenden - und
unbeabsichtigten - Einblick in die Psyche ihres Autors. Es ist
unmöglich, die Schriften selbst von den Umständen zu
trennen, in denen sie von Sade geschrieben wurden: ein gefallener
Aristokrat, der die Französische Revolution überlebte
und mehr als 30 Jahre seines erwachsenen Lebens im Gefängnis
verbrachte, für Verbrechen wie Vergewaltigung und Pornographie.
Seine Geschichten wurden in Verließen, Gefängniszellen
und Irrenhäusern im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts
erdacht. Wie Gorgos scheinen sie einer gewaltigen, immer wieder
neu aufgefüllten Quelle unbeschreiblicher Wut zu entspringen.
Sade schreibt, um seinem Ärger über die heuchlerischen
Mächte, die ihn unterdrücken, freien Lauf zu lassen;
um seinen eigenen Wahnsinn in Schach zu halten; und um seine
fleischlichen Gelüste in der Isolation der Gefangenschaft
zu befriedigen - mit Fantasien, die mit zunehmender Dauer seines
Eingesperrtseins immer weiter eskalieren. All seine unbändigen
Gefühlsausbrüche - während der Hälfte seines
erwachsenen Lebens eingekerkert zwischen vier Wänden - ergießen
sich mit der Wucht einer Naturkatastrophe aufs Pergament. In
einem Moment ist er grandios, dann wieder infantil. Wie viele
seiner Figuren ist Sade eine Mischung unserer niedersten Instinkte,
vollkommen entblößt. Er ist grotesk und gleichzeitig
verführerisch.
Weil Sade so komplett die romantische Vorstellung des "Schriftstellers
als Irren" erfüllt, war er immer auch ein starker ,blueprint'
für viele andere Künstler: Peter Weiss, Yukio Mishima,
Nobelpreis-Gewinner Octavio Paz und Filmemacher Pier Paolo Pasolini
haben allesamt Werke geschaffen, die nach dem Vorbild von Sade
entstanden. (Es ist wenig überraschend, dass Sades Künstlerkollegen
dazu tendieren, ihm mit Sympathie entgegenzutreten.) Wenn man
das Ungeheuerliche seiner Prosa in Betracht zieht, dann zwingt
Sade einen dazu, sich mit unausweichlichen und wichtigen Fragen
über die Natur der Kunst auseinanderzusetzen. Was ist die
wahre Funktion der Kunst in einer Kultur? Soll sie die Lehrsätze
einer Gesellschaft aufrecht erhalten - oder sie in Frage stellen?
Bestätigen - oder angreifen? Soll sie die Institutionen,
die die Zivilisation formen - Regierung, Kirche - stützen
oder sie entlarven? Zieht politische Unterdrückung tatsächlich
provokative Kunst nach sich, anstatt, wie beabsichtigt, sie zu
unterdrücken? Was passiert, wenn wir die extremen Stimmen
in unserer Gesellschaft zum Schweigen bringen? Was passiert,
wenn wir sie zu Wort kommen lassen?
Als ich mit der Arbeit an Quills begann, lasteten all diese
Fragen schwer auf meinen Schultern. Sie waren mir wichtiger als
eine faktische, biographische Wiedergabe der Lebensdaten des
Marquis de Sade. (Wahre Leben verfügen nur in den seltensten
Fällen über eine narrative oder thematische Kontinuität.
Selten gelingt es, sie in zwei Stunden Unterhaltung zu komprimieren.
Ich würde auch nie behaupten, dass der Sade, den ich erdacht
habe, dem wahren Marquis entspricht. Es war nicht zu vermeiden,
dass er als Ergebnis eine Mixtur aus angesammelten Tatsachen
und meinen eigenen Vermutungen werden würde.). Also bereitete
ich mir ein Geschenk: das befreiende Konzept, das man "künstlerische
Freiheit" nennt.
Ich wusste, dass ich, wollte ich tatsächlich die Essenz
seines Wesens - also nicht die bloßen Fakten seines Lebens,
sondern die eigene, bösartige Ästhetik des Marquis
- erfassen, mich genauso an seiner Fiktion orientieren würde
müssen wie an dem stetig wachsenden Stapel von Biographien
auf meinem Schreibtisch.
Ich würde mit der selben boshaften Lust schreiben müssen,
die Sade wohl gefühlt haben mag, als er sich seinen Weg
durch "Justine" oder "Die 120 Tage von Sodom"
kämpfte. Ich habe Fakten neu arrangiert, Figuren gefälscht
und neue erfunden. Viele der dramatischen Höhepunkte des
Films entspringen meiner Fantasie.
Ich habe es mir sogar erlaubt, dem verstorbenen Marquis Worte
in den Mund zu legen, indem ich mir Geschichten in seinem Stil
ausdachte anstatt mich bei seinen wohlbekannten Werken zu bedienen.
Ich hoffe, dem Film gelingt es, sich über die bloße
Person hinwegzusetzen, die in seinem Mittelpunkt steht, und die
Menschen des 21. Jahrhunderts direkt anzusprechen. Ich habe mich
bemüht, dem Beispiel meiner geschätzten Vorgänger
folgend die Figur de Sade dem verstaubten Umfeld der Geschichtsbücher
zu entreißen und aktuelle Fragen unserer Zeit kritisch
aufzugreifen. Ich bete, dass er mir das Eindringen verzeiht,
speziell in Anbetracht seines letzten Wunsches. Ich muss wohl
nicht betonen, dass ich ihn ungern zum Feind hätte.
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