|
|
Unterstützen Sie Kinoweb. Klicken Sie unseren Sponsor.
Signs and Wonders
Interview mit Jonathan Nossiter
Warum haben Sie auf Video gedreht?
Seit über 30 Jahren bin ich regelmäßig in Athen.
Um den Prozeß des Drehbuchschreibens mit James in Gang
zu bringen, machte ich Tausende von 35mm-Fotos der Stadt. Acht
Monate lang hatte ich Athen mit einer kleinen Videokamera nach
den passenden Locations durchstreift, die meiste Zeit allein.
Langsam und zufällig entwickelte ich dabei eine Beziehung
zu der Stadt, die die persönliche und fotografische verdrängte.
Als letzte Vorbereitungen vor dem eigentlichen Drehbeginn
mußte ich die potentiellen Bewegungen der Stadt erforschen
- als Gegenstück zu den Fotos, die Ausdruck eines schwebenden
Augenblicks in der Zeit sind. Tag für Tag lief ich mit einem
Assistenten, der als Stand-In für die Charaktere herhalten
mußte, herum und versuchte, die schnellen Veränderungen
jedes Drehortes zu erforschen und aufzunehmen. Athen ist ja ein
Wahnsinn aus ständiger (und meist vergeblicher) Bewegung,
ein städtischer Alptraum... Nicht grotesk, aber in seiner
ganz konkreten Banalität nur umso verstörender.
Aber damals haben Sie noch nicht daran gedacht, auf
Video zu drehen, oder?
Nein, nein. Bis zum letzten Moment hatte ich vor, auf Film zu
drehen. Wir machten Tonnen von Tests auf 35mm und probierten
die verschiedensten Filme aus, aber die glatte, überdetaillierte
Werbefilm-Ästhetik dieser neuen Fabrikate deprimierte mich.
Heutzutage macht es in dieser Beziehung keinen Unterschied, ob
man einen Independentfilm, einen Hollywoodstreifen oder sogar
einen japanischen Autorenfilm sieht.
Und wann haben Sie begonnen, Ihre Vorstellungen zu ändern?
Nachdem ich Hunderte von Stunden auf Band angesammelt hatte,
bekam ich das Gefühl, als ob die Stadt und die Story nur
durch die Unmittelbarkeit existierten, die mir Video bot. Unmittelbarkeit,
Nähe, Bewegung, Spontaneität. Das war verwirrend, aber
auch aufregend, sehr lebendig. Ich fühlte mich, als ob ich
die Kontrolle verlieren würde - aber auf eine gute Art.
Und zur selben Zeit mußte ich versuchen, irgendeine Ordnung
in diesem ausufernden Chaos auszumachen...
Um also das Zeug zu katalogisieren und die Drehpläne
vorzubereiten für diesen Film über einen Mann, der
alles, was er sieht, sehr genau - vielleicht übergenau -
wahrnimmt, ersann ich ein kompliziertes Ordnungs- und Kodierungssystem.
Ich reihte zunächst die Sequenzen und Schüsse aneinander,
die am wichtigsten schienen, dann ging ich auf den Standbild-Modus
und schoß bei jeder wichtigen Bewegungsänderung ein
Foto.
Als ich die Aufnahmen entwickelte, erkannte ich, daß die
abgefilmten Videobilder durch Zufall fast malerisch anmutende
Eigenschaften hatten. Seltsamerweise schien die Qualität,
nach der ich suchte, ausgerechnet in diesen hybriden Bildern
gegenwärtig. Farbe und Form waren jetzt nicht durch einen
albernen, manchmal grotesken Detailreichtum überbetont,
sondern schienen auf eine abstrakte Art konzentrierter zu sein,
suggestiver und emotionaler. Weniger beschreibend, dafür
ausdrucksvoller.
Ich war skeptisch, dieses Verfahren noch weiterzutreiben.
Aber Tammaso Vergallo, einem Videopionier bei Swiss Effects,
war gerade mit neuer Blow up-Software ein radikaler Durchbruch
gelungen; und mit ihr bearbeiteten wir einige meiner Scouting-Szenen
- eigentlich nur aus Jux und ohne große Erwartungen. Es
war eine Art Schock, als ich sah, daß genau die Eigenschaften,
die durch die Transformation von Video auf Foto sichtbar geworden
waren, sich auch bei Filmbildern auf 35mm fanden.
Die neue Technologie schien paradoxerweise einen menschlicheren,
handwerklicheren und malerischeren Effekt zu bewirken. In dem
Film geht es darum, wie wir im täglichen Leben eine visuelle
Verschönerung betreiben, wie wir alles "malen",
was wir sehen, und wie gefühlsmäßig und psychologisch
wir Bilder verändern, zu jeder Sekunde, an jedem Tag.
Haben Sie anders gedreht, als Sie es auf 35mm getan
hätten?
Total - und doch überhaupt nicht. Da die ganze Sache eine
Art glücklicher Unfall war, über den ich stolperte,
habe ich einen großen Teil des Films wie mit einer 35mm-Kamera
gedreht, mit Steadycam, Kränen, Kamerawagen, einer Filmklappe
usw. Doch wann immer der menschliche Moment besondere Spontaneität
und Freiheit für Entdeckungen erforderte, konnte ich mich
leichten Herzens von Behinderungen wie Lichtsetzung, der Abhängigkeit
von großen Crews und sperrigem Equipment freimachen. Dann
konnte ich allein mit den Schauspielern ein Ambiente schaffen
und war unabhängig von allen außer dem Tonmann.
Wie hat Sie das als Regisseur betroffen?
Der Einsatz von Video erlaubte mir, die Kameraführung zu
überwachen und den sehr eingeschränkten Einsatz von
Licht auf eine viel persönlichere Weise zu kontrollieren.
Außerdem konnte ich gemeinsam mit den Schauspielern Ausschnitte
und Perspektiven als Ausdruck von etwas ungewöhnlich Menschlichem
und Unmittelbarem erarbeiten (als ein direkter Ausdruck der "Story"
und der Menschen).
Ich glaube, daß das Publikum somit tiefer in die Haut
der Charaktere schlüpfen kann. Diese Arbeitsweise überbrückt
die Kluft, die Schauspieler manchmal von Regisseuren trennt und
damit auch vom Publikum... Natürlich ist das ein komisches
Paradox in einem Film, in dem physische, aber auch emotionale
Hindernisse oft einen Menschen daran hindern, einen anderen zu
erreichen, ganz gleich, wie verzweifelt er es auch versucht.
Was meinen Sie mit "eingeschränktem Licht"?
Video erfordert viel weniger Licht als konventioneller 35mm-Film,
also geht alles schneller. Wenn einem ein Aufbau nicht gefällt,
kann man ihn rasch umstellen, und zu guter Letzt kann man das
gesamte Licht in der Postproduktion ändern, wie ich es auch
getan habe. In gewisser Weise ist das, was man auf Video aufnimmt,
wie ein unbeschriebenes Blatt. Oder wie eine grundierte Leinwand,
auf der erst die ersten skizzierten Striche des Gemäldes
zu sehen sind.
Tatsächlich ist das der Arbeit mit Öl auf Leinwand
sehr ähnlich, im Gegensatz zu 35mm, was wie Wandmalerei
ist. Wenn beim Drehen mit 35mm-Film erst einmal Licht und Farben
für die Aufnahme vermessen sind, ist der Spielraum für
Änderungen sehr gering. Wie bei der Freskenmalerei muß
man Licht, Atmosphäre, visuelle Emotionen eigentlich mit
dem ersten Pinselschwung erfaßt haben. Fast alles Sichtbare
ist festgelegt, bevor man die Szene tatsächlich dreht, bevor
man die Schauspieler eine menschliche Wirklichkeit entwickeln
läßt. Das menschliche Moment wird dann in die Bildhülse
gepreßt.
Bei Großmeistern des kontrollierten Ausdrucks funktioniert
das gut. Aber ich werde nicht nur niemals das nötige Handwerkszeug
für diesen Ansatz besitzen, ich bin auch von meinem Temperament
her gar nicht daran interessiert, eine solche Art von Kontrolle
auszuüben. Von den ersten Drehbuchphasen gemeinsam mit James
(Lasdun) bis zum endgültigen Schnitt mit Madeleine (Gavin)
oder der Tonmischung bin ich immer sehr begeistert, wenn sich
Dinge entwickeln und so lebendig und unvorhersehbar wie möglich
sind - unvorhersehbar vor allem für mich in der Rolle eines
Zuschauers.
Wie haben die Schauspieler reagiert?
Zunächst etwas bestürzt wegen des plötzlichen
Verlusts aller "Requisiten", aber dann mit riesigem
Enthusiasmus. Wie Produzent Marin (Karmitz) besitzen Stellan
(Skarsgård), Charlotte (Rampling), Deborah (Kara Unger)
und Dimitris (Katalifos) viel Erfahrung mit traditionellen Dreharbeiten,
aber sie offenbarten erstaunliche Abenteuerlust und Mut beim
Ausprobieren dieser "jugendlichen" Technologie.
Wollten die Schauspieler mit mir allein sein und die Kamera
für eine halbe Stunde laufen lassen, um schließlich
20 Sekunden wertvollen, destillierten Privatlebens zu finden,
dann gab es dafür kein Hindernis außer der Grenze
der Vorstellungskraft oder der emotionalen Kühnheit. Letztendlich
- mit Schauspielern, die dermaßen einfallsreich und leidenschaftlich
sind wie Stellan und Charlotte - scheint das digitale Medium
in Momenten, in denen man einfach loslassen und eine ungestörte
Intimität genießen kann, wie eigens für Darsteller
ihres Kalibers erfunden.
Welches Stadium war im Verlauf der Arbeit am bedenklichsten
für Sie?
Der radikalste Aspekt dieser Technologie schien mir, daß
ich zwei Wochen mit einem digitalen Timer verbringen konnte,
um die tatsächlichen und scheinbaren Licht- und Farbverhältnisse
zu überarbeiten, die Striche und Farbtöne innerhalb
individueller Einstellungen nachzuziehen, von den Einzelaufnahmen
mal ganz abgesehen - wie wenn man mit Öl auf Leinwand arbeitet.
Ich konnte die Bildqualität nach dem Drehen bestimmen, also
nicht nur als Antwort auf Augenblicke, die von den Schauspielern
geschaffen wurden, sondern nach dem Schnitt, nachdem die Geschichte
ihren menschlichen Ausdruck gefunden hatte.
Das gleicht der Fähigkeit eines Malers, ein Gemälde
völlig zu überarbeiten, wenn sich sein Verständnis
des Modells oder des Gegenstandes ändert. Und weil die Leistung
der Schauspieler so lebensnah war und sich ständig entfaltete
bis zum letzten Schnittag (der willkürlich einen Prozeß
beendet, der leicht halb oder doppelt so lange hätte dauern
können), schien die Möglichkeit, das Bild neu zu gestalten,
unverzichtbar. Für einen Regisseur, der durch Menschliches
und Visuelles gleichermaßen stimuliert wird, ist dies ein
ungeheuer aufregender Durchbruch hin zu einem persönlicheren
und handwerklicheren Ausdruck.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, in Europa
zu drehen?
James und ich wollten die Beziehungen zwischen Amerikanern und
Europäern erforschen, und da dies uns beide persönlich
betrifft, erschien es logisch, den Film in Europa anzusiedeln.
Bedeutete das zwangsläufig eine europäische
Produktion?
Es erschien angemessen, den Film in Europa zu machen, da die
wirklich internationale Natur der Geschichte in dieser polyglotten,
kosmopolitischen Tradition des Filmemachens wiedergefunden werden
konnte: mit Leuten aus verschiedenen Ländern, die einander
mit jeweils unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen konfrontieren
können.
Allein bei diesem Film ist der Drehbuchautor ein in Amerika
lebender Engländer und der Regisseur ein in Europa und Asien
aufgewachsener Amerikaner. Die Stars: Ein Schwede spielt einen
adoptierten Amerikaner, eine in Paris lebende Engländerin
eine griechischstämmige Amerikanerin, außerdem eine
Kanadierin und ein Grieche; dazu als Produzent ein pan-europäischer
Franzose, der seit langem nicht nur Filme aus seinem eigenen
Kulturkreis macht, sondern auch in Rumänien, Iran, Asien
und dem Rest der Welt.
Warum schien Ihnen Marin Karmitz der richtige Produzent
für ein derart ambitioniertes Projekt, das mit neuen Technologien
arbeitet?
Aufgrund unserer gemeinsamen Vergangenheit gab es von Anfang
an ein gemeinsames Verständnis und den Wunsch, bestimmte
Themen in den Film einzubringen: die Gefahr der Globalisierung,
die Angriffe internationaler Konzerne auf die Individualität
von Europäern und Amerikanern und die Zerbrechlichkeit menschlicher
Beziehungen als Folgeerscheinung davon.
Es war auch Glück, daß Marin Karmitz willens war,
ganz allein das große Risiko zu tragen und den Einsatz
von Video in einem Film zu erlauben, der die sich entwickelnde
Technologie auf eine neue Weise genutzt hat: nicht, um einen
spröden, dokumentarfilm-ähnlichen Look zu schaffen,
sondern um einen bildhaften Ausdruck von größtmöglicher
Fülle zu finden. Es gibt nur wenige gestandene Produzenten,
die immer noch bereit sind, auf hochbegabte Schauspieler, eine
internationale Story und die Erforschung neuer Ausdrucksmittel
zu setzen.
Tatsächlich war es Ihnen durch die modernste Technologie
möglich, eine Art "handgemachten" Film zu drehen.
Was für eine Art grundsätzlicher visueller Qualität
hat Ihnen die digitale Arbeit Ihrer Meinung nach gebracht?
Eine andere Ironie bei der Geschichte ist, daß diese "neue"
Technologie mir erlaubte, Farbe und Form auf eine seltsam altmodisch
anmutende Art zu erforschen; sehr überhöht, was manchmal
fast Technicolor-Effekte wie aus den späten Fünfziger
Jahren ergab, die aber irgendwie passen. Ich finde, es gibt im
ganzen Film eine natürliche Spannung zwischen sehr modernen
Schauspielern, die aber mehr als nur einen Hauch vom Vierziger-Jahre-Film
Noir-Geheimnis verströmen, zwischen schreckenerregender
Nostalgie und dem Schrecken der Gegenwart.
Hatte das Drehen auf Video irgendeinen Einfluß
auf den Charakter des Films als emotionaler Thriller?
Ich weiß nicht. Vielleicht, weil James, Stellan, Charlotte
und ich mit Vehemenz versuchten, den emotionalen und psychologischen
Tiefen des Genres auf den Grund zu gehen. Die Beweglichkeit und
Flüssigkeit der digitalen Annäherung und die konzentrierte,
aufs Wesentliche reduzierte Qualität der Bilder ermöglichte
es uns wahrscheinlich, eher die zwischenmenschliche Spannung
anzustreben als die Spannung der Geschichte.
(New York, 16. Januar 2000)
|