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Sonnenallee

Grenzübergang Sonnenallee


Szene Szene mit Detlev Buck als ABV

von Lothar Holler, dem "Mauerarchitekten" von Sonnenallee

Der Grenzübergang Sonnenallee ist der Handlungsort unseres Films, oder genauer, das Hinterland des Grenzüberganges - ein Ort, an dem sich täglich hundertfach die gleiche groteske Geschichte abspielte - der Umgang mit der Tücke, mit der unwirklichen Wirklichkeit.

Abgrenzung

Die Mauer, der offizielle Sprachgebrauch der Linientreuen war "Antifaschistischer Schutzwall", wurde als Trennung zweier Weltsysteme von den gleichen Menschen errichtet, die einst angetreten waren, ein besseres Nachkriegsdeutschland zu bauen.

Die brachiale Abgrenzungsmethode verursachte vor allem die Deformierung gewachsener Strukturen, das Versiegen von Rohstoffquellen und die partielle Lahmlegung der Industrie. Aus der Ersatzstoffwirtschaft der Kriegszeit wurde die Mangelwirtschaft. Richtig ausreichend gab es eigentlich nur die Theorie vom besseren Leben, die Büsten der Heroen, Bilder der Führer, Fahnen und Schnaps.

Mangel und Bedürfnisse

Die Mangelwirtschaft hatte eigenwillige ideologische Patente und ästhetische Erscheinungsformen im Schlepptau. Aufwendige Verpackungen oder Werbung waren auf Grund der Begehrtheit der Produkte und der Konkurrenzlosigkeit wenig von Nöten: Machbarkeit und Notwendigkeit formten das Bild. (Was machbar und notwendig war, war wiederum eine ideologische Entscheidung von zentraler Verantwortung.) Andererseits blieben die Regenwälder verschont und kein Kind der dritten Welt mußte Teppiche für die Wohnzimmer in Leipzig und Dresden knüpfen.

Nach dem Mauerfall zeigte sich, daß sich die Bedürfnisse in Ost- und Westdeutschland glichen, nur die Möglichkeiten und Umstände waren andere: Pappautos statt Blechautos, Vita Cola statt Coca Cola, Datschen statt Bungalows, Trainingsanzüge statt Jogginganzüge, Baracken statt Container.

Bei Broilern und Brathähnchen war der Unterschied nicht mehr so groß, bei Bratwurst und Bratwurst gleich Null.

Parallelen

Meiner Mitarbeiterin Karin Bierbaum aus Dortmund drängten sich während der Vorbereitungsarbeiten zu Sonnenallee reichlich Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit im Ruhrgebiet auf. Die gelbbraune Farbskala, die großen Muster, Anbauwände und Sofagarnituren waren hüben wie drüben Objekte der Begierde, sie unterschieden sich nur durch den dezenten Grauschleier. Anders das Licht! Nach dem Bau der Mauer wurde es auf der Ostseite ganz schön duster. Werbung wie Plaste und Elaste, RFT, Margonwasser, HO und Konsum waren die schwachen Positionslampen des Ostens.

Einen sinnlichen Genuß besonderer Art versprach das Schild "Obst Gemüse Südfrüchte", das auch in unserem Film zu finden ist. Ich behaupte, daß das Schild "Südfrüchte" die ständige Sehnsucht in allen Bevölkerungsschichten nach der verschlossenen Welt aufrecht hielt, mehr als alle Lieder und Gedichte. Das Sinnliche war der Geruch. Obst und Gemüse gab es zu jeweiligen Erntezeit, gleich vom Feld. Es roch immer erdig und etwas vergammelt. Nur Weihnachten, da gab es eben Südfrüchte, da roch alles anders.

Die Firma Schalk mußte jedes Jahr teure Devisen auf den Welthandelstisch knallen, um zu Weihnachten das Bedürfnis Südfrüchte zu befriedigen. Dann war die Welt da, ein riesiges Westpaket für alle. In der Zwischenzeit wurde die Schaufenster oft mit Bildtapeten von Bananen dekoriert, Erinnerungsstützen fürs restliche Jahr.

Gleich neben den Gemüseladen haben wir die DDR-typische Sekundärrohstoff-Sammelstelle gesetzt. SERO war ein System zur Rückführung von Flaschen, Lumpen und Papier für die Industrie und gleichzeitig eine Einnahmequelle für Kinder, die ihr Taschengeld aufbessern wollten.

Der gelbe Post-Kiosk ist das Kernstück der Kulisse. Hier lagen zu DDR-Zeiten die Zentralorgane der Bruderländer in der Auslage und demonstrierten Gleichschritt. "Unter dem Tisch"; MAGAZIN und MOSAIK - heiß begehrt, gesammelt und für den Normalbürger ohne Beziehungen meistens ausverkauft.

Fassaden und Feste

Hinter den Fassaden, die bei uns genau 261m lang waren, fand ein höchst interessantes und intensives Leben statt. Es war politisch und sinnlich, es war offiziell und inoffiziell - jeder lebte, so gut er konnte und durfte, aber keiner war allein. Die Spielregeln bestimmte der Staat, es gab keine Deckung und Schlupflöcher, höchstens Nischen. Der West-Besucher, der sein Zittern überwand und durch die Grenze die kürzere Seite der Sonnenallee erreichte, konnte mit etwas Glück auch ein anderes Gesicht des Ostens erleben: Feste, heiß und sinnlich, Tische, die sich von vollen Schüsseln slawisch bogen - Bouletten, wilde Weiber und Funkwagen!

Der Film

Als ich 1976 die Kunsthochschule verließ, stand ich im Prinzip mitten im Drehbuch von Sonnenallee. Als dann am 9. November 1989 die DDR aus dem Rahmen fiel und ich mich um 23:00 Uhr auf die längere Seite der Sonnenallee schob, hätte ich nie gedacht, daß es zehn Jahre dauern würde, ein Drehbuch in der Hand zu halten, das nicht auf Schwarz-Weiß-Malerei beruht. Nach der Wende wurde meistens nur das Deformierte, das Verschobene und Verkorkste dieses "zweiten deutschen Staates", der DDR, beschrieben. Gut kam dabei immer der "erste deutsche Staat" weg, die Brüder und Schwestern, die Paketschicker, die Onkels und Tanten, die Opas und Omas die wußten, wo der Schuh drückt.

Als 1998 das Projekt Sonnenallee stand, der Startschuß im Juni fiel, begann ein erneutes Eintauchen in eine Welt, in der wir damals gelebt haben. Neben Modellen, Zeichnungen, Entwürfen, Fotos usw. waren es vor allem die Geschichten, die lebendigen Erlebnisse, welche diesen Film gestalteten. Eine Sammlung unendlicher Details entstand.

Gleichzeitig mußten Bauzeichnungen, Bauvorbereitungen, Bauausführungen und Logistik in Angriff genommen werden. Der nötige Aufwand ging an die Grenzen von Studio Babelsberg, erschloß aber auch neue Wege. Dem hohen Standard der Mitarbeiter und ihren handwerklichen Fähigkeiten ist es zu verdanken, daß diese Film-Welt entstehen konnte.

Ende September 1998 war Drehbeginn. Der fiktive Ort Sonnenallee füllte sich mit Leben, die beabsichtigte emotionale Wirkung erfüllte sich. Der Gemüseladen roch tatsächlich wie DDR 76. Die Kinder der Mangelgesellschaft bauten mit der Technik des "Klassenfeindes" die Mauer - aus Pappe:

Die Papp-Mauer in Babelsberg

Bebaute Fläche: ca 7000 qm

Asphaltdecke: ca 3000 qm

Gehwege/Spielplatz: ca. 1500 qm

Bordsteinkanten: ca. 250 laufende Meter

26 Fassaden: ca 3625 qm, Länge 261 Meter mit 300 Fenstern, Schaufenstern, Türen

Bis sechzehn Meter hohe Unterkonstruktionen, die neun Meter tief im Boden verankert wurden, tragen die Fassaden. In den Unterkonstruktionen wurden 250 Tonnen Stahlprofile verbaut. Die Bauzeit der gesamten Außendekoration betrug drei Monate, bis zu 70 Handwerker waren gleichzeitig beschäftigt

Die Sonnenallee-Kulisse ist heute Teil der Studio-Tour Babelsberg. Durch die besondere Bauweise der Kulisse (Stahl-Unterkonstruktion) können die angehängten Fassaden ausgetauscht werden. So können in Zukunft auf dem Gelände immer neue Straßenzüge entstehen und völlig verschiedene Filme gedreht werden.


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