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Die Bettlektüre


Kalligraphie

Szene In der Kalligraphie ist die Abstraktion von allen Künsten am vollkommensten entwickelt. In China und Japan wurden die piktographischen Ursprünge der Schriftzeichen vor zweitausend Jahren in reine Pinselstriche umgewandelt. Im Westen ist ein ursprünglich auf ähnlichen Piktogrammen basierendes phonetisches System sogar noch früher rein geometrischen Zeichen gewichen. Im Osten wie im Westen ist die Kalligraphie ein Mittel zur Umsetzung von Gedanken in eine formalisierte Sprache. Gedankliche Abstraktionen werden zu schwarzen Zeichen auf weißem Grund.

Damit endet jedoch die Ähnlichkeit der beiden Traditionen. Die chinesischen und japanischen Schriftsysteme bleiben ihrem Wesen nach piktographisch, und jedes Schulkind lernt, daß den Buchstaben Bilder zugrunde liegen. Ein solches System ist lesbar, ohne daß die Wörter im Kopf ausgesprochen werden. Die abstrakten Bilder gehen direkt als Bedeutungen in das Denken ein.

Szene Die phonetischen Systeme des Westens haben keine Erinnerung an ihre piktographischen Ursprünge. Wörter werden im Kopf stumm ausgesprochen (eine recht neue Errungenschaft: Der mittelalterliche Leser murmelte beim Lesen), ihre Bedeutung wird "gehört".

Phonetische Systeme sind effizient. Es sind höchstens 40 Buchstaben nötig, um in einer westlichen Sprache zu schreiben. Doch eben diese Effizienz hat im Westen zu einem mechanischen Umgang mit der Schrift geführt und die Entwicklung einer wirklichen Kalligraphie zunichte gemacht. Ein mittelalterliches Manuskript ist eine genau reglementierte Rasteranordnung vollkommen geformter Buchstaben, die, um ästhetisches Vergnügen zu bereiten, mit Gold und Farben ausgestaltet werden müssen. Nur bei informellen Dokumenten, Urkunden und Schriftstücken von beschränkter Geltungsdauer hatten die Schreiber eine gewisse gestalterische Freiheit.

Beim chinesischen und dem japanischen Schriftsystem braucht man Tausende von Zeichen, um schreiben zu können. Dies sowie die Verwendung eines weichen spitzen Pinsels auf Papier anstelle eines Federkiels auf Pergament trug zur Entwicklung der Kalligraphie als primäre künstlerische Sprache des Ostens bei. Das in China im 1 . Jahrhundert v. Chr. eingeführte Prüfungssystem für Beamte schuf eine anhaltende Verbindung zwischen hochstehender Kalligraphie und Gelehrsamkeit. Für gedankliche Klarheit und poetisches Empfinden war exzellente Kalligraphie der einzig adäquate Ausdruck. Dies ist etwas ganz anderes als das Bild vom sklavischen Kopieren, das wir mit der klösterlichen Tradition des Westens verbinden.


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