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Murder in the First
ALCATRAZ
Alcatraz hat seit seiner Entdeckung durch die Indianer
einen üblen Ruf. In den 80 Jahren unter spanischer Herrschaft
bewohnte niemand die Insel. Sogar die Russen nannten sie auf einer
Karte aus dem Jahr 1823 Zabeliaka Ostrov, was so viel wie Sorgeninsel
heißt. Ihre spätere Funktion, erst als Militär-,
dann als Staatsgefängnis, trug wenig dazu bei, das düstere
Image zu widerlegen.
Für die Filmemacher entsprach der Ort ganz seinem
unheilvollen Erbe. Rocco erinnert sich an die Tage, die er auf
der Insel verbrachte: "Es war extrem dunkel, bedrückend
und einsam. Die Zeit vergeht sehr langsam, und man verliert jegliches
Empfinden dafür. Ich bin mir nicht sicher, wonach ich gesucht
habe - ein unbestimmtes Gefühl oder eine Erfahrung, die mir
ein bißchen erklärt hätte, wie der Ort vielleicht
einmal gewesen ist."
Der Drehplan von MURDER IN THE FIRST umfaßte
13 Wochen. Mehr als zwei Wochen verbrachte man auf Alcatraz für
Innen- und Außenaufnahmen. Das Team bemühte sich sowohl
im Studio als auch am Originalschauplatz um eine historisch genaue
Rekonstruktion der Gefängnisinsel, ihrer Atmosphäre
und ihrem äußeren Erscheinungsbild.
Die Logistik bei Dreharbeiten auf einer Insel stellt
eine besondere Herausforderung dar. Die gesamte Filmausrüstung,
Lastwagen, Generatoren und Materialien mußten mit Booten
oder Lastkähnen herübergebracht und mit einem Kran auf
der Insel ausgeladen werden. Lebensmittel und Wasser mußten
ebenfalls importiert werden. Sie kamen jeden Tag zusammen mit
der Crew und den Schauspielern auf einem Frachter vom Festland
herüber. Als Umkleidekabinen für die Schauspieler fungierten
nicht die üblichen Wohn- oder Campingwagen, sondern Zellen
des ehemaligen Krankenhauses von Alcatraz. Obwohl die Räume
frisch gestrichen waren und ein schwarzer Vorhang etwas Privatsphäre
ermöglichte, bildeten die modernen Sofas, Stühle, Fernseher
und Videorecorder neben den vergitterten Fenstern, den alten rostigen
Abflußrohren und den kaputten Toiletten einen ironischen
Kontrast zur Vergangenheit.
Rauhe Wetterbedingungen erschwerten die Lage zusätzlich.
Alcatraz liegt mitten in der Bucht von San Francisco, nahe der
Öffnung zum Pazifischen Ozean. Ein Bombardement von Stürmen
mit Geschwindigkeiten von über 110 Stundenkilometern, Hagel
und ständig wechselnder Wolkenhimmel machten die Außenaufnahmen
strapaziös und unberechenbar. Boote mit Materialien und Mitarbeitern
hatten regelmäßig Verspätung wegen der rauhen
See. Die Feuchtigkeit und Strenge des Wetters - oft erwähnt
in Büchern über das Leben im Gefängnis von Alcatraz
- wurden eine tagtägliche Realität für das Team,
sogar innerhalb der Zellenblöcke. Die Kälte der Luft
war unbarmherzig, und bei Nachtaufnahmen sanken die Temperaturen
unter den Gefrierpunkt.
Die fabrikähnliche Atmosphäre des Gefängnisses,
mit seinen dominanten Stahl- und Steinbauten, erzeugte eine kalte,
unpersönliche Welt. Auf Fotos und Dokumenten sahen die Filmemacher,
daß jede Zelle, jeder Schreibtisch, jeder Raum sich einer
genauen Ordnung fügte; Alcatraz war eine Einrichtung mit
strengen Verhaltensregeln und ausgeprägter Disziplin. Das
bekräftigte die Filmemacher in ihrer Absicht, die Ausstattung
spartanisch zu halten. Die Bilder des Films sollten aus einer
kahlen, trostlosen Landschaft auftauchen.
"Viele der alten Gerichtsfilme waren grobe,
bunte Technicolor-Spektakel, die mir sehr unrealistisch vorkamen".
erklärt Rocco. "Daher entschloß ich mich, bei
dem zu bleiben, was ich auf Alcatraz gesehen hatte, was ich auf
Schwarzweißfotos und in alten Wochenschauen gesehen hatte,
und was ich sah, wenn ich an Henri dachte und jeden anderen Menschen,
der mit seinem Fall zu tun hatte. Ich glaube aber, daß Bilder,
die dennoch schön sind und zu den Ereignissen in Kontrast
stehen, oft viel eindrucksvoller und aussagekräftiger sind."
Um die Story in ihren zeitgeschichtlichen Rahmen
einzubetten, entschloß sich Rocco einige Sequenzen des Films
in Schwarzweiß im Stil alter Wochenschauen zu drehen. Dieses
neue Wochenschaumaterial sowie alte Archivaufnahmen schildern
den Lauf der Zeit und der historischen Ereignisse in den Jahren,
als Henri Young in Einzelhaft sitzt und als sein Prozeß
stattfindet.
Entscheidend für die Stimmung des Films und
seinen Stil war die Beleuchtung. "Das Licht hat großen Anteil
an der Wirkung des Films und seiner Geschichte", sagt Rocco.
"Besonders der Mangel an Licht bei den Kerkerszenen, und
dann der Überfluß an Licht, wenn Henri herauskommt,
sind von großer Bedeutung und Symbolkraft.''
Das Team besuchte die Überreste von Alcatraz'
unterirdischen Gängen und Verliesen, sowohl während
der Vorbereitungszeit, als auch während des Drehs. Ursprünglich
gehörten die heutigen Kerker zu den Verteidigungsanlagen
einer Militärfestung oder Zitadelle aus dem Bürgerkrieg,
die 1859 fertiggestellt wurde. Obwohl es jahrelang von offizieller
Seite bestritten wurde, gilt es nun als gesichert, daß man
sowohl Sträflinge als auch Armeeangehörige aus disziplinarischen
Gründen in diese Kerker eingesperrt hat. Ins "Loch",
wie man es nannte, geschmissen zu werden, war die schärfste
Form der Einzelhaft.
Die Konstruktion der Verliese und Katakomben
war organischer als der Rest des Gefängnisses. Sie wurde
von der natürlichen Geographie der Insel bestimmt, denn die
ursprünglichen Bauherren verfügten nicht über die
Technik und die Ausrüstung, um den Felsen zu durchstoßen.
In diesen Kerkern aus Ziegel und Stein herrscht noch der Geist
des Mittelalters - ein schneidender Kontrast zu dem geordneten,
mustergültigen Gefängnisbau darüber.
Alle Besucher der unterirdischen Kerker wurden mit
dem gleichen Problem konfrontiert. Wenn sich die Tür hinter
ihnen schloß, konnten sie nichts mehr sehen. "Man konnte
nicht mal die Hand vor seinen Augen sehen", sagt Bacon. "Es
war völlig dunkel dort unten. Es gab absolut kein Licht."
Wegen der Fäulnis, aus Sicherheitsgründen und zahlreichen
logistischen Problemen wurden die Katakomben und Kerker in einem
Studio in Los Angeles nachgebaut. Dabei orientierte man sich an
den labyrinthischen Tunnelanlagen, die man auf Alcatraz besichtigen
durfte.
Die Dreharbeiten auf Alcatraz waren für die
Schauspieler und das Team der Höhepunkt der historischen
Exaktheit, obwohl man immer wieder in die Gegenwart zurückgeholt
wurde. Die Insel zieht täglich mehr als 4000 Besucher an.
Der Regisseur und seine Crew mußten also die Aufnahmen im
Hauptgebäude, im Gefängnishof, im Hafen und an anderen
Schauplätzen genau mit den Besucherführungen abstimmen.
Als es sich herumsprach, daß auf der Insel ein Film mit
Christian Slater und Kevin Bacon gedreht wurde, verdoppelte sich
die Zahl der Touristen. Die Filmemacher mußten hunderte
von Schaulustigen am Set um Ruhe bitten.
"Wir wurden eine Touristenattraktion",
sagt Rocco. "Die Leute liefen nicht mehr herum und fragten:
,Wo ist die Zelle des Vogelmenschen?' Nein, sie fragten: ,Wo ist
Christian? Wo ist Kevin? Wo ist Gary?"
Um die Epoche genau zu rekonstruieren, verfügten
der Produktionsdesigner, der Artdirektor, die Kostümbildnerin
und der Ausstatter glücklicherweise über viele historische
Originale oder konnten diese nachbauen aufgrund von Fotografien
und Archivalien. So ist beispielsweise das Boot des Gefängniswärters
Warden Humson im Film das 60 Jahre alte Originalboot des früheren
Gefängnisdirektors Johnson gewesen.
Es gab keine Einzelheit in der Rekonstruktion von
Zeit und Ort, die den Filmemachern nicht wichtig gewesen wäre.
"Alle Originalgegenstände, die wir während der
Entstehung des Films auftreiben konnten, hatten starken Einfluß
auf Stimmung und Atmosphäre", ergänzt Slater. "Die
Arbeitsbedingungen waren oft sehr hart, aber so konnte man sich
vorstellen, was es einst bedeutete, dort inhaftiert zu sein."
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